50 Grades of Shame

Ein Bilderbogen nach Wedekinds „Frühlings Erwachen“
Foto: Doro Tuch
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Nach der Premiere im vergangenen März in München zeigen She She Pop diesen Bilderreigen inspiriert von Wedekinds Frühlings Erwachen und E. L. James Erotikroman 50 Shades of Grey nun in einer neuen Fassung mit älteren, jüngeren und ganz jungen Gästen aus der Berliner Tanz-, Performance- und Schauspiel-Szene. Nach dem Vorbild von Wedekinds utopischen Erziehungsmodellen ist die Bühne hier eine Lehranstalt und She She Pop und ihre Gäste bilden darin einen Lehrkörper.
Auf zwei großen Schautafeln auf denen durch mehrere Live-Kameras Überblendungen entstehen, inszenieren sich die verschiedene Akteure, Alte, Junge, Kinder, Frauen und Männer in einer Folge von Begegnungen. In wechselnden monströsen oder schlichten Aufmachungen und Posen zeigen sich unterschiedliche Generationen und Geschlechter, reale Körper und phantastische Ausgeburten, offenbaren sich strategische Authentizität und naive Imagination. Erfahrene Alte stehen neben unschuldigen Jungen, oder umgekehrt, keine Position ist sicher und niemand weiß verlässlich Bescheid.
Das Erleben von Sex verändert sich ständig – es ist historisch, politisch, biografisch und durch spezifische Kontexte bedingt. Noch die privatesten Aussagen über Begehren, Fortpflanzung, Geschlechterspezifik usw. sind Ideologie, sie sind Schall und Rauch, sie sind banal, langweilig oder Fiktion. Die Weitergabe von Wissen ist Penetration: eine geile Spielart unter anderen. Bei allem Zweifel und Unbehagen muss Aufklärung dennoch stattfinden. Was bedeutet Sex? Was macht eine Frau? Was ist ein Mann? Was weiß das Kind? Der intergenerationelle Lehrkörper von 50 Grades Of Shame stellt sich dieser Herausforderung. Als Anschauungsmaterial dienen den PerformerInnen die eigenen Körper und die darin angesammelte Scham. 50 Grades of Shame befasst sich mit dem Herstellen, Betrachten, Verändern und Umdeuten von Bildern: Bilder als Ideale, als Norm, Bilder des kollektiven und des eigenen Begehrens, Bilder als konkretes Beispiel, als Pornografie, Karikatur und zersetzende Kollage. Gemeinsam mit ihren Gästen arbeiten die PerformerInnen von She She Pop hier an einem neuen szenischen Format. Es gilt, die individuellen Körpergrenzen, das Alter, das Geschlecht, die eigene Scham und die mühsam errungene sexuelle Identität aufzugeben und vor der Live-Kamera miteinander zu verschmelzen in immer neuen, kollektiven Körperbildern. Jeder und jede, ob alt oder jung, ist bei aller Erfahrung naiv und muss doch den anderen belehren. Jeder und jede kann den anderen imitieren, parodieren, penetrieren. Es entsteht eine Ars Erotica für die Bühne – zwischen modernem Bilderbuch der Sexualaufklärung und spätmittelalterlichem Totentanz.

Credits

Konzept: She She Pop Von und mit: Gundars Abolinš, Sebastian Bark, Daniel Belasco Rogers, Knut Berger, Lilli Biedermann, Jean Chaize, Anna Drexler, Jonas Maria Droste, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Walter Hess, Christian Löber, Lisa Lucassen, Fee Aviv Marschall, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Florian Schäfer, Susanne Scholl, Berit Stumpf, Zelal Yesilyurt.

Director of Photography & Video Installation: Benjamin Krieg. Bühne: Sandra Fox. Kostüme: Lea Søvsø. Musik: Santiago Blaum. Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger. Dramaturgie: Tarun Kade. Sounddesign: Manuel Horstmann Licht: Michael Lentner. Technische Tourbetreuung: Florian Fischer, Sven Nichterlein. Video Assistenz: Philipp Hohenwarter. Übertitel: Anna Kasten (KITA). Produktion/PR: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro. freie Mitarbeit Kommunikation: Tina Ebert. Finanzadministration: Aminata Oelßner.Company Management: Elke Weber.

Eine Produktion von She She Pop und den Münchner Kammerspielen in Koproduktion mit dem HAU Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, FFT Düsseldorf, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt a.M. und Kyoto Experiment.

Premiere, März 2016, Kammerspiele, München

Gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin- Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten und im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Termine


Vergangene Termine:
22. Mai 2019, CPH Stage Festival, Kopenhagen
25., 26. Januar 2019, Europäisches Zentrum der Künste Hellerau, Dresden
24., 25. Oktober 2018, Kyoto Experiment, Kyoto
7., 8., 9. April 2018, HAU, Berlin
8. Juli 2017, Münchner Kammerspiele, München
15., 16. Juni 2017, Festival delle Colline Torinesi, Turin
18., 19. Mai 2017, auawirleben - Theaterfestival Bern, Bern
11., 12., 13. Mai 2017, HAU, Berlin
17., 18. März 2017, FFT, Düsseldorf
12. Februar 2017, Kammerspiele, München
13., 14. Januar 2017, Bozar, Brüssel
5., 6. Januar 2017, HAU, Berlin
2., 29. Januar 2017, Kammerspiele, München
8., 21. Dezember 2016, Kammerspiele, München
1., 2., 3., 4. Dezember 2016, Kampnagel, Hamburg
17., 18., 19. November 2016, Mousonturm, Frankfurt am Main
19., 20., 21., 22., 23. Oktober 2016, HAU, Berlin
5., 7. Juli 2016, Kammerspiele, München
18., 19. Juni 2016, Impulse Theater Festival, tanzhaus NRW, Düsseldorf
3. Juni 2016, Kammerspiele, München
17., 20., 27. Mai 2016, Kammerspiele, München
22., 27. April 2016, Kammerspiele, München
6., 12., 16. März 2016, Kammerspiele, München
3. März 2016, Kammerspiele, München

Pressestimmen

Man sehe sich beispielsweise dieses raffinierte Stück „50 Grades Of Shame“ an (…). Es handelt sich um eine scharfe, provokante Reflexion – scheinbar belehrend, aber tatsächlich von einer realen und ernsten Analyse bestimmt – über Sexualität in all ihren Ausformungen, von der jugendlichen Entdeckung des Schamgefühls und der Schande bis zur Individualisierung von Rollen innerhalb eines Paares, von den männlichen oder weiblichen erotischen Trieben bis hin zur mehr oder weniger ironischen Definition dessen, was in der Welt, in der wir leben, erlaubt und verboten ist.
Renato Palazzi, 24 ORE, 24.06.2017

„50 Grades of Shame“ ist ein Bilderreigen (…) und schafft auf der Bühne einen wüsten Atlas der Möglichkeiten. (…) Nackte und bekleidete Körperteile werden von Kameras aufgenommen und wie in einem Umklappbuch, mit dem sich Kinder lustige Leute oder Tiere zusammenbasteln, auf zwei Leinwänden neu zusammengefügt. Die Variationsmöglichkeiten sind unendlich, denn auf der Bühne stehen Männer und Frauen in verschiedenem Alter und Format. Sie alle liefern die Beine, Bäuche, Brüste und Büsten für die Leinwände. Untenrum steht dann die Figur auf dünnen Beinchen, die tragen einen Kugelbauch mit dicken Brüsten und der darauf sitzende Männerkopf hat einen langen Bart. Und zack, schon ist wieder alles ganz anders. Dann schwebt die Brust als Mondkopf über dem Torso und so fort…In den besonders poetischen Momenten begegnen sich die entsprechenden Bilder auf der Leinwand, sie küssen sich innig und wild…
Frankfurter Rundschau, 11.11.2016

Unter dem Tital „50 Grades of Shame“ geht es (She She Pop) diesmal um Liebe, Sex und Scham. Dazu haben sie sich Schauspieler und einen echten Teenager ins Boot geholt. Als Referenzpunkt dienen Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ und der Sex-Schmöker „Fifty Shades of Grey“. Der Abend kommt dann als Mischung aus „Predigt, Darkroom, Rollenspiel und Frontalunterricht“ daher. Es passieren darin einige Herrlichkeiten, etwa ein ziemlich unverfrorener Lobgesang aufs eigene Po-Loch oder Frechheiten zu den Fragen, was heutzutage noch verboten beziehungsweise erlaubt sei.
Journal Frankfurt, 11.11.2016

Kritik zur Premiere in Berlin, Oktober 2016

Schon stecken wir selbst mitten drin in dem Krakenwesen des Begehrens, von dem das Performance-Kollektiv She She Pop an diesem Abend jede Falte ausleuchtet. Nein, nicht ausleuchtet, sie halten kurz ein Kerzchen rein und ziehen es dann diskret wieder zurück.  (Aber) She She Pop ist zu helle, als dass sie ihre bohrenden Wort-Bild-Kollagen, die wie immer zwischen Selbstentblößung und Reflexion mäandern, der dunklen Flecken beraubten. Geht es hier doch überhaupt um das Scheuste selbst, Sex. Genauer: um all das, was ihn verhindert, damit entweder die Lust (E.L. James) oder die Beschämung (Wedekind) wächst.
Dass She She Pop die Körperteilwanderungen zum Leitmotiv macht, ist nicht nur buntes Gender-Einerlei, vielmehr korrespondieren die Bilder genau mit den Erzählungen von Erregung, Gealt und moralischer Projektion. Sie behaupten nicht einfach die Pauschalität „sozialer Geschlechter“, sondern verbildlichen die peinigen Verknotungen von Gesellschaft und Natur variantenreich.
Doris Meierhenrich, Berliner Zeitung, 19.10.2016

Kritik zur Premiere in München, März 2016

Da wachsen Männerköpfe aus hüpfenden Brüsten, baumeln Gemächte unter orangenen Abendkleidern, setzt sich schließlich – ausgerechnet zur Lektion über das Alleinsein – ein erotischer Patchwork-Body aus den Gliedern des gesamten Ensembles zusammen. Ach, würden wir uns nur als aus anderen Körpern zusammengesetzten Genpools begreifen? Das wäre wohl wirklich das Ende der Scham. So aber umtanzen She She Pop vor allem die unausgesprochene Frage, warum es auf der Bühne und vor Publikum möglich ist, von Dingen zu sprechen, die einem im Bett, neben dem Partner, nur schwer von der Zunge gehen. So hören wir Lobgesänge ans Po-Loch und Brandreden ans Bindegewebe, Einklagungen der Lust und Beischlaf-Tipps, für die heranwachsende Lilli Biedermann. Vielleicht, sinniert sie zum Schluss, werden sich spätere Generationen fragen, warum wir den Sex dem Dunkle entreißen wollten und doch keine Worte für ihn fanden. Deren haben She She Pop reichlich gefunden, treffende, persönliche, klischeebehaftete.
Christian Bos: „Kölner Stadt-Anzeiger“, 20.06.2016

Scham oder Nicht-Scham, das ist auch hier die Frage. Und so entpuppt sich „50 Grades of Shame“ als ebenso intelligenter wie hoch amüsanter und rasanter Performance-Parcour zwischen Theatertheorie und Schamkunde und zwischen Repräsentationstheater und bildender Kunst und leuchtet dabei die Dunkelzonen der menschlichen Natur zwischen Kopf und Unterleib heller aus als jede Wissenschaft es je könnte.
Sven Ricklefs, SWR, 4.3.2016

Das Geschehen auf der Bühne wechselt zwischen Kanzelpredigten, Dramenszenen aus Wedekinds Drama, Frontalunterricht und Rollenspielen – ohne feste Rollen für die Schauspieler (darunter Anna Drexler, Werner Hess und mit der 16-jährigen Lilli Biedermann ein «echter Teenager»). Auf großen Videoleinwänden verschmelzen die Körper der Darsteller beeindruckend zu immer neuen Konstellationen: ein gemeinsamer Körper als Utopie. Für den überaus unterhaltsamen Abend gab es viel Jubel, minutenlangen Applaus und ein einsames Buh…
Die Welt, 4.3.2016

Bei She She Pop bleibt „Scham“ ein schillernder Begriff, nicht nur negativ besetzt. Zumal die Pornografisierung unserer Gesellschaft mit körperlichem Perfektionswahn einhergeht. In „50 Grades of Shame“ wird dieser Körperkult konterkariert, der Körper als Konstrukt vorgeführt. Auf zwei Leinwänden werden Live-Videobilder von Köpfen einzelner Performer mit den Körpern anderer zu Patchworkpersonen montieren. Da wirft sich Christian Löber in die lässige Pose des Aufreißers Christian Grey aus den James-Romanen, das Gesicht dazu aber liefert Anna Drexler. Da entstehen Hermaphroditen-Bilder aus blanken Brüsten und baumelden Penissen. Oder der Kopf des 77-jährigen Walter Hess sitzt im Videobild auf dem nackten Frauenleib von Berit Stumpf. Ja, die Performer von She She Pop bringen durchaus eine, wie sie es nennen, „nudistische Freude“ mit an die Münchner Kammerspiele, die man schamlos zu nennen geneigt ist. Dass man als Zuschauer gleichwohl nie peinlich berührt ist, verdankt sich der Ironie, die den schonungslosen, auch ungeschönten Körpereinsatz begleitet. Ein unverschämt guter Abend.
Christoph Leibold, DeutschlandRadio Kultur, 4.3.2016

Bald wirbeln Kleider über Männerbäuche, Herrenköpfe stehen auf nackten Brüsten – ein Durcheinander entsteht, eine Auflösung von Geschlechterrollen und Scheingewissheiten, so simpel wie eindrucksvoll, so witzig wie effektiv. Und dann kippen die Perspektiven, und die Proportionen und Körperteile projizieren sich in- und aufeinander, mal monströs, wenn Walter Hessens Kopf aus einem Unterleib erwächst, dann wieder bizarr utopisch, wenn die ineinander gesteckten Oberkörper von Berit Stumpf und Sebastian Bark einander liebkosen. Santiago Blaum, am Bühnenrand platziert, lässt ein musikalisches Crescendo anschwellen, das dumpf und schrill zugleich klingt; ein lustvolles Inferno, während Lilli Biedermann aus der Masturbationsszene von Wedekinds Hänschen Rilow liest, der wiederum eifrig den „Othello“ zitiert.
Tim Slagman, nachtkritik, 4.3.2016

Dieses Panoptikum der Körper-Wechselbilder erschüttert, macht Angst, bringt einen zum Staunen und Lachen. Wirre Fantasy-Wesen erwachen zum Leben, wenn etwa zwei auf dem Rücken liegende Oberkörper an der Taille miteinander verschmelzen oder wenn zwei Finger einer übergroß projizierten Hand einen Unterkörper darstellen. Diese Living-Stills, visuelle Explosionen unseres Inneren, geben einen Einblick in das, was zwischen Himmel und Erde, zwischen Körpern gleich welchen Geschlechts vorstellbar ist. Brüche und Abgründe unserer Schamwelten werden ausgestellt – und verstärkt durch die peinlich-trashigen Kostümanordnungen (Lea Søvsø). Auf diesem irrsinnigen Laufsteg unserer Gefühle und Fantasien, der das Gegenteil von Heidi Klums Topmodel-Höllenritt der Äußerlichkeiten ist, entsteht ein großartiger, humorvoller Dada-Reigen gegen den Wahnsinn der rigiden Körperansprüche und der Selbstoptimierung. Dieser Abend von „She She Pop“ wirkt zu Hause nach. Vor dem Spiegel stehend fragt man sich entgeistert und fröhlich zugleich: Das bin ich? Und wenn ja, wieso?
K. Erik Franzen, Frankfurter Rundschau, 7.3.2016