She She Pop entwerfen einen Kanon aus der Perspektive der Zuschauer*innen, eine offene Liste unverzichtbarer Momente aus der Erinnerung der Anwesenden. Von all den Ereignissen die wir auf einer Bühne gesehen haben – welche wollen wir nicht vergessen? Von welchen müssen wir berichten? Was war so faszinierend und erhaben, was war derart schmerzhaft oder einleuchtend, derart befreiend oder so schauervoll, dass wir uns erinnern müssen?
Kanon ist zugleich Ritual und Revue. Und sie ist eine kollektive Geschichtsschreibung insbesondere für jene Inszenierungen, die jenseits des dramtischen Kanons stehen, von denen nach ihren Aufführungen scheinbar nichts bleibt, als die Erinnerung der Beteiligten, für Tanz, von Performance oder Happening.
Die Liste, die hier entsteht, ist ein ‚Kanon von unten‘, vor jeder Zensur. Der Geist weht, wo er will. Jeder Eintrag gilt, der ein charismatisches Ereignis bezeugt. Daher arbeitet Kanon mit all den Mitteln der Flüchtigkeit, die diese Kunstformen selbst hervorgebracht haben. Der Abend bewegt sich in einer Spanne von reiner Nacherzählung bis zum Versuch beschwörender Wiederaufführung.
Wie überdauern die Körper, Gesten, der Raum, die Objekte, Architekturen und Installationen, der Rhythmus, die Dauer, die Stimmen, die Sprache, der Klang und die Musik? In der Erinnerung derer, die sie erlebt haben, in der Wiederaufführung durch sie selbst. Die Unschärfe, das Verfälschende des Erinnerns ist ebenso wesentlich wie die Freude an dem unvergessenen Moment.
Kanon wird von She She Pop und anderen Künstler*innen entwickelt: Ausgewählte Gäste aus der Freien Szene sind zu diesem kollektiven Erinnerungsritual eingeladen. Aber auch die zufällig anwesenden Zuschauer*innen sind aufgerufen am Kanon mitzuwirken und ihre eigenen Erlebnisse an besondere performative Momente darin einzuschreiben. So entfaltet sich diese Performance jeden Abend neu und spontan aus der anwesenden Gemeinschaft. Das Verhältnis von gegenseitiger Verpflichtung und Verbindlichkeit zwischen Bühne und Zuschauer*innenraum, wie sie in zeitgenössischen Theaterformen häufig zu finden ist, wird in Kanon gespiegelt, gefeiert und benutzt. Die Gemeinschaft entsteht erst durch die Beschwörung des gemeinsamen Kanons. Im Moment der Darstellung verbinden sich akutes Erleben mit Geschichten- und Geschichtsbildung mit der Absicht der Verfälschung zu eigenen Zwecken, mit der Fiktion der Historie. Im Theater entsteht ein „Gedächtnisraum“ aus den Gedächtnissen der Anwesenden und aus der gemeinschaftlichen Antizipation des Neuen.
Credits
Von und mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf und Gastperformance in wechselnder Besetzung.
Gastperformance Berlin in wechselnder Besetzung: Antonia Baehr, Daniel Belasco Rogers, Jean Chaize, Martin Clausen, Brigitte Cuvelier, Sean Patten, Tatiana Saphir, Leicy Valenzuela, Zelal Yesilyurt.
Gastperformance Frankfurt: Irene Klein, Joana Tischkau, Leander Ripchinsky.
Gastperformance München: Sybille Canonica, Maxwell McCarthy, Lavinia Nowak.
Kostüme und Requisiten: Lea Søvsø. Lichtdesign: Michael Lentner. Sounddesign: Jeff McGrory. Bühne: Sandra Fox. Choreografien: erinnert und neu interpretiert von Constanza Macras. Künstlerische Mitarbeit: Valeria Germain, Alisa Tretau, Laia Ribera. Mitarbeit Kostüm: Jana Donis. Mitarbeit Choreografie: Miki Shoji. Hospitanz: Magdalena Hofmann, Natasha Borenko. Technische Leitung: Sven Nichterlein. Produktionsleitung: Anne Brammen. PR, Kommunikation: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro. Freie Mitarbeit Kommunikation: Tina Ebert. Finanzadministration: Aminata Oelßner. Company Management: Elke Weber.
Eine Produktion von She She Pop in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm, FFT Düsseldorf und Münchner Kammerspiele.
Gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa und den Hauptstadtkulturfonds Berlin.
Pressestimmen
(…) tatsächlich ist der Kanon in „Kanon“ im Wesentlichen eine Schau des nicht-dramatischen, nicht-repräsentationstheaterhaften Bühnenschaffens. Momente bei Christoph Schlingensief, Johann Kresnik, Pina Bausch, William Forsythe (überhaupt viel Tanz, mit choreographischer Unterstützung von Constanza Macras adaptiert) werden aufgerufen. Vor Forced Entertainment und anderen britischen Gruppen verbeugt man sich. Vor Susanne Kennedys „Selbstmord-Schwestern“, vor Milo Raus „Die Wiederholung“. Die fancy Kostüme von Lea Søvsø huldigen in poppigen Andeutungen „Säulenheiligen der Aktionskunst“ – von Joseph Beuys bis Valie Export oder Yves Klein. (…)
Der Abend hat einen sentimentalen Charme. She She Pop (in der Premiere: Sebastian Bark, Johanna Freiburg und Ilia Papatheodorou) sowie Gäste (in der Premiere: Brigitte Cuvelier, Sean Patten, Leicy Valenzuela, Zelal Yesilyurt) beschreiben ihren je persönlichen „unvergessbaren“ Theatermoment in seinen äußeren Abläufen, während die übrigen Spieler*innen im Hintergrund mit kargen Verkleidungen und Handwerksutensilien eine betont dilettantische Visualisierung des Moments probieren. Schon bald bekommt das den Robert-Lembke-„Was bin ich“-Faktor, rätselt man innerlich mit (und feiert sich ab, wenn man diese oder jene der zitierten Produktionen schnell erkennt). (…)
In der Episode erinnert sich Ilia Papatheodorou an ihre Erstbegegnung mit der amerikanischen Hardcore-Performerin Ann Liv Young in „Cinderella“ im Januar 2011. (…) Jetzt, acht Jahre später, spielt Papatheodorou die Situation nach, wühlt sich ins Publikum vor, gönnt sich Momente von Young’scher Penetranz. Derweil Sean Patten (üblicherweise beim Kollektiv Gob Squad tätig) in einen Eimer urinieren muss. Bei Young wird an dieser Stelle eigentlich gekackt, aber so werktreu hat man es nicht hinbekommen. Papatheodorou reflektiert derweil über das System der Unterordnung im Theater von Ann Liv Young: „Sie hat uns in ihr kunstvolles Joch gepresst.“ Wunderbar gesagt.
Christian Rakow, nachtkritik, 22.11.2019
Es ist ein Familienalbum, in dem She She Pop und die ihnen Verschworenen blättern. Gemütlich wie ein Pub-Quiz zum postdramatischen Theater, dessen durch den Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann das HAU gerade mit einem Festival ehrt. Erkennbar geht es der Gruppe um das warme Herz des Performativen, das in seiner Offenlegung von Material und Konstruktion, Machern und Gemachtem, oft mehr Identifikationspotenzial liefert als die bruchlosen Repräsentationstechniken klassischen Schauspiels.
Janis El-Bira, Berliner Zeitung, 23.11. 2019
Spannend wird der Abend dann, wenn die Zuschauer und Zuschauerinnen aufgefordert werden, sich gegenseitig ihre eigenen Theater-Gänsehautmomente zu erzählen. In den auf der Bühne erzählten Erinnerungen geht es fast immer um Momente, wo die vierte Wand zwischen Publikum und Bühne verschwand oder weggeblasen wurde, wortwörtlich während einer Aufführung in Avignon, die in einem Gewittersturm unterging oder in der Geschichte von Sebastian Bark, der sich an eine Aufführung von Jerome Bells „The Show Must Go On“ erinnert. (…)
Gegen nationale Identität, oder gegen einen nationalen Bildungskanon. She She Pop (…) setzt (..) auf das Teilen individueller Erinnerungen. Auf dem Nachhauseweg geht mir die Frage nach meinem persönlichen Theaterkanon nicht aus dem Kopf. Ich bin Teil eines kollektiven Prozesses geworden, genannt: „postdramatisches Theater“.
Gerd Brendel, Deutschlandfunk Kultur, 23.11.19
Unbestritten besitzt diese Revue der individuellen Erfahrungen Unterhaltungswert. Der Abend ist – um eine Vokabel zu leihen, mit der Lehmann die multiple Gegenwart des postdramatischen Theaters beschrieb – „buntscheckig“.
Patrick Wildermann, Tagesspiegel, 24.11.19
Der Abend könnte auch „Einführung in die Praxis von She She Pop“ heißen, denn er zeigt wie ein Experiment, das einer bestimmten Spielanordnung folgt, auf der Bühne aussehen kann. Nicht ein übergeordnetes Regiekonzept steht im Vordergrund, sondern der Prozess selbst. (…) Dabei sind die evozierten Fragen nach der Flüchtigkeit der Form und der damit verbundenen Schwierigkeit der nachträglichen Vermittlung durchaus spannend und aktuell. Jedenfalls macht der Abend neugierig auf einige vergangene Theatermomente. Schade nur, dass wir sie nie (wieder) erfahren werden.
Nora Auerbach, Die deutsche Bühne, 25.11.19
Dieser Kanon ist unterhaltsamer Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte und ein aufschlussreicher Abend über Theatergeschichte (…)
Das Kulturblog, 25.11.19
Es ist ein Abend der Liebeseserklärungen, konsequent im Wir. (…) überhaupt (ist) sehr vieles sehr in Ordnung in den zwei Stunden, mit denen das erfolgreichtse deutschsprachige Performerinnenkollektiv die Kraft der darstellenden Kunst feiert. Denn die (…) Akteure (…) bedienen sich nicht nur seltsamer Requisiten, lassen beim Nachstellen der erinnerten Szene die Lust am Übertreiben, an der Groteske und am Spiel viel Raum. Es geht ihnen doch immer und grundsätzlich um das Warum. (…)
Es ist ein besonderes Glück für die „Frankfurt Fassung“, dass mit Irene Klein eine Tänzerin, die 20 Jahre lang beim Ballett Frankfurt war, mit von der Partie ist. Denn Constanze Macras (…) hat mit She She Pop deren choreografische Erinnerung erarbeitet, unter anderem einen sehr lustigen Pina-Bausch-Gedächtnis-Move. Sie empfand auch auch eine rasend anspruchsolle Sequenz aus „In the Middle, Somewhat Elevated“ für die Nichttänzer nach. Und es sieht auf eine besonders rührende Weise lustig aus, wenn zwischen deren etwas windschiefes Posen Kleins Körper demonstriert, dass er all diese Bewegungen gespeichert hat – wie wir alle unsere Theatermomente. Ein hinreißendes Kollektiverlebnis (…).
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.20
She She Pop versuchen in „Kanon“ das eigentlich Unmögliche: den Live-Moment von teilweise Jahrzehnte alten Inszenierungen zu wiederholen und das Flüchtige, das in der DNA des Theaters so fest eingewoben ist, kurz zu überlisten, um der Magie willen. Diese gemeinsame Reise durch Zeiten, Orte und Gefühle ist eine große, selig machende Liebeserklärung an den Zauber des Theaters.
Christian Lutz, Süddeutsche Zeitung, 10.02.20