Frühlingsopfer
In der Überlagerung dieser Sphären sehen She She Pop die Möglichkeit, ein Thema zu entwickeln, das stumm zwischen den Generationen steht. Wie bei Strawinski entfaltet sich die Performance Frühlingsopferselbst als ein Ritual: Die Begegnung von She She Pop, ihren Müttern und dem Publikum wird in aller Feierlichkeit inszeniert. Doch im Gegensatz zu der Gemeinschaft, die sich bei Strawinski für das Frühlingsopfer versammelt, besteht bei She She Pop und den Müttern keineswegs fraglose Einigkeit über das Vorgehen, im Gegenteil. Zweifel stehen von Anfang an im Raum. Aber ebenso der Entschluss, es gemeinsam zu versuchen.
Credits
Konzept: She She Pop.
Von und mit: Cornelia und Sebastian Bark, Heike und Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Irene und Ilia Papatheodorou, Heidi und Berit Stumpf, Nina Tecklenburg.
Director of Photography & Video Installation: Benjamin Krieg & She She Pop. Bühne: Sandra Fox & She She Pop. Kostüm: Lea Søvsø. Musikalische Mitarbeit: Damian Rebgetz. Choreographische Mitarbeit: Jill Emerson. Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger. Lichtdesign/Technische Leitung: Sven Nichterlein. Ton: Florian Fischer. Video Assistenz: Anna Zett. Übertitel: Panthea (Anna Kasten). Tour Koordination: Fanny Frohnmeyer, Kaja Jakstat, Veronika Steininger. Technische Tourbetreuung: Florian Fischer, Manuel Horstmann, Andreas Kröher, Michael Lentner, Sven Nichterlein, Torsten Schwarzbach. Produktion/PR: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro. Freie Mitarbeit Kommunikation: Tina Ebert. Finanzadministration: Aminata Oelßner. Company Management: Elke Weber.
Eine Koproduktion von She She Pop mit dem HAU Hebbel am Ufer, FFT Düsseldorf, Künstlerhaus Mousonturm, Kaserne Basel, brut Wien, Prager Theaterfestival deutscher Sprache/Archa Theater Prag, Kyoto Experiment und Théâtre de la Ville/Festival d’Automne à Paris.
Premiere, April 2014, HAU, Berlin
Residenz gefördert durch Art Center Kyoto, Kyoto Experiment und Goethe Institut.
Gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin- Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten und den Hauptstadtkulturfonds Berlin.
Trailer
Termine
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Pressestimmen
FRÜHLINGSOPFER aufgeführt von She She Pop und ihren Müttern beim Short Theatre Festival 2015 in Rom
She She Pops Stück stellt ‚Fragmente der Wirklichkeit’ zusammen, die um das Thema Mutterschaft kreisen und präsentiert ‚aktuelle Vorgänge’ des Generationenkonflikts zwischen Müttern und ihren Kindern. Ziel von Peter Weiss’ Dokumentartheater war das Formulieren von Fragen, die zu Lösungsansätzen und praktischem Handeln führen sollten. Die Relevanz von She She Pops Aufführung hingegen liegt nicht im Aufwerfen solcher Fragen und der Suche nach Antworten. She She Pop verwenden ihre Energien vielmehr darauf, ein Modell herauszuarbeiten, das in der Lage ist, die aktuelle Situation zu objektivieren. Was für eine Art von Gesellschaft wollen wir, was können wir tun, um eine Gesellschaft zu erhalten bzw. zu entwickeln, die nicht bestimmte Personen in die Opferrolle drängt, wozu brauchen wir immer noch den Mythos der Mutterschaft – am Beginn muss das Nachdenken über diese Fragen stehen. Die Aufführung ruft bei uns – die wir selber Teil einer Gemeinschaft sind – ein Problembewusstsein wach – und motiviert dazu, ausführlicher zu reflektieren. Wir streifen dann mit unseren Gedanken weiter zu Denkpositionen, die vom eigenen Standpukt abweichen. Und genau darin steckt das Potential eines Theaters, das der Wechselbeziehung zwischen Performern und Zuschauern eine zentrale Bedeutung einräumt.
Takako Shibata, Eine universale ‚Erzählung‘ als Herausforderung an das unveränderliche Frühlingsopfer – aufgeführt von She She Pop und ihren Müttern, Theatre Arts No. 59 / 2015
Aus postfeministischer Sicht mag man die Auffassung, dass Frauen nicht allein Opfer sind (von männlicher Gewalt, die hier notabene keine Rolle spielt), sondern auch Opfer bringen, obsolet oder – je nachdem – banal erscheinen. Doch dass She She Pop „eigentlich“ nichts anderes unternimmt, als eine neue – sehr ungewöhnliche – Interpretation von Igor Strawinskys unsterblicher Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ zu liefern, hebt das Projekt von vorn herein aus der individuell privaten in eine abstrakte Sphäre. Musik, selbst wenn sie so programmatisch ist wie Strawinskys Komposition, entzieht sich nun einmal dem Bedeutungshorizont der Sprache. (…) Dass die Familienaufstellung nicht stattfindet, kann man „Frühlingsopfer“ aber keineswegs zum Vorwurf machen. Im Gegenteil: Es spricht sich darin – wie auch im ebenbürtigen Einsatz von sprachlichen und nonverbalen, von technischen und musikalischen Mitteln – sehr präzise die Vielschichtigkeit weiblicher Identität zwischen Autonomie und Opfer (oder, wem das zu pathetisch ist: Verzicht auf Möglichkeiten der Selbstentfaltung) aus. „Frühlingsopfer“ ist weit mehr als eine therapeutische Gruppensitzung. Zum großen – ästhetischen – Glück.
Bettina Schulte, Badische Zeitung, 28.06.2014
Natürlich vergleicht man «Frühlingsopfer» dann doch mit «Testament». Am stärksten fällt auf, wie viel direkter und deshalb für die Bühne dankbarer das Vater-Stück war. Aber gerade das ist die Stärke des Mutter-Stücks: Am beredtesten ist es, wenn die Dinge in der Schwebe bleiben. Wenn gesagt wird, was nicht gesagt werden wird. Aber es sollte etwas ohne Worte sein. Frauen und Körper, das mag abgedroschen wirken. Doch ist der Tanz Ausdruck für frühere Zeiten, als nur kritisiert oder nie kritisiert wurde; als die Mutter jedes Familienfest mit schlechter Laune sabotierte; als Erwartungen unausgesprochen in der Luft hingen. Mit dem Stück, bei dem die vier Mütter nicht selbst auf der Bühne stehen, sondern in Videoaufnahmen auf Leinwände projiziert werden, setzt die Analyse ein – indem das Publikum die Lücken weiterdenken muss. Erneut gelingt es She She Pop, Klischee-Fallen zu umgehen. Radikal zu sein, ohne plakativ zu werden. «Frühlingsopfer» ist kein Strafgericht, sondern, nun ja, eine Liebeserklärung. Am Ende steht nicht der Tod wie bei Strawinsky, sondern die Versöhnung.
Regula Frevler, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 15.06.2014
Es wird immer noch reichlich geredet, wenn auch deutlich weniger als in „Testament“. Das private Material hat das Kollektiv einmal durch den Schredder des indirekten Sprechens gejagt, um exakte Zuordnungen zu verwischen. Und dann werden doch die ganzen Widersprüche auf den Tisch gepackt: Kinder, die nicht kuscheln wollen, Mütter, deren Liebe erdrückt, kindliche Nähewünsche, zerstörte Türen, Gesprächsabbrüche, Konkurrenz, mühsam erkämpfte und erduldete Distanz, das schuldhafte Paradox, dass die eigene feministische Kunstarbeit womöglich von den ihre eigenen Interessen zurückstellenden Müttern mit ermöglicht wurde. „Wir wollen nicht darüber reden, dass die Anwesenheit dieser Frauen mindestens ebenso wichtig ist wie ihre Abwesenheit. Dass wir ihnen nah sein wollen, ohne mit ihnen zu reden.“ Also rücken live und im Bild die Körper in den Mittelpunkt: Am Anfang des Intensivspannungs-verhältnisses von Mutter und Kind steht schließlich die körperliche Verbindung, bei Müttern und Töchtern zudem die Identifikation. She She Pop spielt visuell noch einmal mit diesen kindlichen Identifizierungen: Die Töchter auf der Bühne imitieren die improvisierten Tänze der Mütter auf der Leinwand, Videoporträts der Kinder werden mit denen der Mütter überblendet, zeigen verblüffende Ähnlichkeiten, verschmelzen miteinander, Sebastian Bark regrediert gar wieder zum Säugling an der Mutterbrust: ein Gruselbild. Und die Mütter spielen mit, schmiegen sich wie Medizinfrauen in ihre Decken und Capes, mimen auch mal die alles verschlingenden Monster, uneitel und mit Sinn für Humor. Auch in dem merkwürdigen, eckigen und anrührenden, dabei komplett unesoterischen Ritual, das She She Pop mit blinkender Opferkrone, Fusselrolle und Staubsauger zu Strawinsky zelebriert, die Utopie einer vorsichtig zärtlichen Begegnung von Müttern und Kindern. So aufrichtig wie möglich, so distanziert wie nötig.
Eva Behrendt, Theater Heute, Juni 2014
Nach der Uraufführung in Berlin war „Frühlungsopfer“ von She She Pop und ihren Müttern jetzt in nur zwei restlos ausverkauften Vorstellungen im Frankfurter Mousonturm zu sehen – man kann nur hoffen, dass die Arbeit noch einmal dort gezeigt wird. Nicht, weil Mütter und Kinder jeglichen Alters so etwas wie eine künstlerisch verbrämte Familienaufstellung geboten bekämen. „Frühlingsopfer“ sieht zunächst zwar so aus, aber so leicht und einfach hatten es sich She She Pop nicht gemacht, als sie vor vier Jahren mit dem gefeierten „Testament“ ihre eigenen Väter auf die Bühne brachten, um mit ihnen entlang von Shakespeares „Lear“ über Generationsverträge und Liebe zu reden. Die seit 15 Jahren zusammenarbeitende Gruppen hat keine Coverversion für ihre Mütter geplant, sondern weiter nachgedacht. Unter anderem darüber, dass es vielleicht einfacher ist, mit Vätern zu spielen, als etwas über Mütter herauszufinden. Vorbehalte, Grenzen und Schwierigkeiten werden offengelegt: dass Mütter und Kinder oft über völlig verschiedene Dinge reden, aber dieselben Begriff verwenden. Was bedeutet es, wenn eine Mutter sich wünscht, die Tochter wäre „emanzipiert“? Was soll eine Tochter von einer Mutter halten, die 45 Jahre verheiratet ist, aber nicht weiß, wie die familiären Finanzen aussehen? Was bedeutet „Opfer“ für die Müttergeneration der noch im Krieg Geborenen, und was verstehen Mütter und Kinder unter Leid, Würde, Wertschätzung und Freiheit? She She Pop haben einen für sich neuen, klugen Weg gefunden, sich mit Fragen des Mutter-Kind Verhältnisses und des Selbstbildes auseinander zusetzen. Weshalb die Zuschauer von vier buntgemusterten Leinwänden empfangen werden, auf denen bald, in Bildern und Filmen, die vier Mütter von Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf erscheinen. Von Anfang an sind es also Mütter-Bilder im doppelten Sinne, mit denen sich die Performer und das Publikum auseinandersetzen. Und von Anfang an greifen She She Pop auf ein ebenfalls gedoppeltes Muster zurück. Dass in der feministischen Literatur das „Opfer“ der Frau und Mutter eine so große Rolle spielt, spannen sie zusammen Strawinskys „Sacre du printemps“. Nach einer Vorrede strukturiert die vollständige abgespielte Musik mit kleine Pausen den Abend, dazu wird getanzt, gesungen und geklatscht. Nicht selten persifliert das archaisch gemeinte Gestampfe des „Tanz dich frei„ von Esoterikworkshops und Familienseminaren. Doch auch das Einstudieren der Rhythmen und schlichten Schritten erhält der Abend auch eine Abstraktheit, die Müttern und Performern Freiheit verleiht.
Eva-Maria Magel, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.04.2014
Kritiken zur Premiere im April 2014
Tanz die Mutter! Ein großer Theaterabend über alles außer Schuld und Erziehungsfehler. … Absolut logisch und konzeptionell zwingend also, dass sich die Begegnung zwischen Müttern und Töchtern nach dieser aufschlussreichen „Vorrede“ ins Körperliche verlagert: Anders als bei den Vätern mit „Lear“ dient bei den Müttern kein Drama, sondern eine Ballettkomposition aus dem Jahr 1913 als Folie – mit einem aus heutiger Sicht entsprechend kruden Plot: In Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, dem „Frühlingsopfer“, wird eine Jungfrau dem Frühlingsgott zur Versöhnung geopfert. Die Auserwählte darf sich dabei rituell zu Tode tanzen. She She Pop überblenden diese religiöse Opfergeschichte nun mit sehr irdischen Verzichtsfragen: Wer bringt Opfer in der Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Mutter und Kind? Der Begriff „Opfer“ ist dabei natürlich von Anfang an ein für den Abend überaus fruchtbarer Stein des Anstoßes, denn en vogue ist Verzicht in der Selbstverwirklichungsgesellschaft ja bekanntermaßen nicht. Und so eindeutig die Verzichtsrechnung zunächst auch aussehen mag – drei der vier Mütter haben ihrer Ehe beziehungsweise ihren Kindern den Beruf geopfert – so komplex verschieben sich im Verlauf dieses Abends der leisen Gesten und des Lesens zwischen den Zeilen die Koordinaten: Mit dem Verzicht haben die Mütter natürlich auch Projektionen und Ansprüche aufgebaut, die ihrerseits möglicherweise zu anders gelagerten, aber ähnlich harten töchterlichen Opfern führen. All das wird bei She She Pop im zweiten Teil vor allem vertanzt – wobei es selbstredend nicht um formvollendete Choreografien und gestreckte Beine geht, sondern um Expression und Kommunikation – jenseits des Verbalen. Dass das auf beiden Seiten auch mal linkisch aussieht, ist mitnichten ein Betriebsunfall, sondern gehört – im Gegenteil – absolut zwingend zum Ehrlichkeitsprogramm dieses großen Abends.
Christine Wahl, Spiegel online, 11.04.2014
Schau, Mutter … ein gelungenes Spiel mit Bildern und Spiegelungen, mit Identifikationen und Zurückweisungen, mit Besetzungen, Projektionen und Distanzierungen. … Die Rede vom Opfer, von Verzicht und Hingabe, scheint beiden Generationen zunächst suspekt, persönliche Freiheit und weibliche Selbstermächtigung standen auch schon bei den Müttern höher im Kurs. Und doch hat eine ihren Beruf dem Wunsch nach Familie geopfert, eine andere die eigene Künstlerkarriere ihrem Mann zuliebe zurückgesteckt. Diese biografischen Splitter, darunter auch Geschichten von Emanzipation und Erfolg, haben nichts Bekenntnishaftes. Die Performance von She She Pop und ihren Müttern findet eine gute Form, das Persönliche in einen weiter ausgreifenden Zusammenhang zu betten und aus einzelnen und durchaus unterschiedlichen Geschichten eine Erzählung von großem Wiedererkennungswert zu machen.
Katrin Bettina Müller, taz Berlin, 12.04.2014
Mamma Mia … Cornelia Bark, Heike Freiburg, Irene Papatheodorou und Heidi Stumpf, die Mütter der Performer Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf, sind vier beeindruckende Damen, die bei aller Mutterliebe sympathischer weise nicht zu falscher Harmonie neigen. Montagen und Probengespräche, in denen es um Abgrenzungen, gegenseitige Erwartungen, Terrainbehauptungen geht, auch darum, wie privat das hier werden soll, werden aus dem Off eingespielt: „Man will ja nicht jedem alles erzählen.“ Die Theaterprobe wird gezielt zur Fortsetzung der lebenslänglichen Mutter-Kind-Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln. Das lebt davon, dass die drei Töchter und der eine Sohn mit ihren Müttern so neugierig wie vorsichtig umgehen – und sie viel zu ernst nehmen, um Differenzen zu kaschieren. Dass das nicht gestellt oder unangenehm indiskret, sondern einleuchtend wirkt, liegt an der Form, die She She Pop gefunden haben. Anders als die Väter bei „Testament“ stehen die Mütter nicht selbst auf der Bühne. Sie sind auf vier großen Leinwänden zu sehen, auf denen sie die Auftritte Ihrer Kinder beobachten, kommentieren, nicht verstehen oder sich darüber freuen, wie Ihre Kinder reagieren. Schließlich machen sie genau das seit der Geburt Ihrer Sprösslinge. Dass jetzt die Kinder Regie führen, ist Teil des Spiels, auf das sich die vier Mütter zumindest für die Zeit der Probenwochen eingelassen haben. Das Ausloten dieser Mutter-Töchter, Mutter-Sohn-Beziehungen strukturiert die Frage danach, wer für wen welches Opfer gebracht hat und damit die Frage nach dem Preis für alte Rollenmuster: Drei der vier Mütter haben für Ehemann und Kinder ihren Beruf aufgegeben. „Jetzt musst du dich entscheiden, also heiraten und Kinder kriegen. Dieses Baby hat mich natürlich nicht ausgefüllt zunächst“, erinnert sich Irene Papatheodorou. She She Pop sind klug genug, auch die Frage nach dem Preis zu stellen, den ihre Generation unter dem Diktat der Selbstverwirklichung zahl: „Ich wüsste gerne, ob eine Gesellschaft möglich ist, wenn keiner bereit ist, Opfer zu bringen.“
Peter Laudenbach, Süddeutsche Zeitung, 14.04.2014